Ja, es gab am letzten Novemberwochenende 2022 Proteste in Shanghai. Und nein, es ist keine Massenbewegung, es waren und sind wohl eher nicht die größten Proteste seit Jahrzehnten und entgegen der unverhohlenen und hoffnungsvollen Begeisterung mancher Medien- und Twitter-Meinungsführer erleben wir ganz sicher nicht den Beginn eines Umsturzes. Die Proteste, die sich im Kern zu Recht gegen teils überzogene, teils chaotisch organisierte und dilettantisch ausgeführte Corona-Maßnahmen richten, zum „Freiheitskampf“ der „unterdrückten Chinesen“ umzudeuten, ist nicht nur unlauter, sondern schlicht bescheuert.
Ja, in einigen Städten in China hat es Proteste gegeben: berichtet wird in westlichen Medien und „unter der Hand“ von Beijing, Wuhan, Urumtschi, Chongqing und einigen wenigen anderen Städten.
Auch in Shanghai haben sich Menschen versammelt – nach westlichen Medienberichten rund 300 am vergangenen Samstag und am Sonntag. In den chinesischen Medien fanden und finden diese Proteste – wie üblich – nicht statt, aber nach dem, was man in Shanghai selbst als Beobachter sehen und hören konnte, dürften die in den westlichen Medien berichteten Zahlen in etwa passen. Waren es die größten Proteste seit Jahrzehnten, wie etwa der Stern und andere Medien schreiben? Eher nicht…
Zunächst einmal: Wo ist eigentlich der Unterschied zwischen zum Beispiel deutschen Bürgern, die sich durch COVID-Maßnahmen gegängelt fühlen und deshalb auf die Straße gehen, und den Chinesischen? Wenn man dem Duktus der deutschen Medien folgen will, ist diese Frage ganz einfach zu beantworten: Erstens sind die Maßnahmen in China per se viel „brutaler“ und zweitens darf man in China nicht protestieren. Deshalb sind deutsche Protestler feige und undemokratische „Covidioten“ und „Coronaleugner“ und chinesische Protestler mutige oder verzweifelte Freiheitskämpfer. So.
Einmal abgesehen davon, dass ein paar Tausend Demonstranten im Milliarden-Staat China offensichtlich nicht nur für die westliche Medienwahrnehmung viel wichtiger und berichtenswerter sind als zehntausende in Deutschland, könnten wir es bei obigem Befund belassen, was viele deutsche Meinungsführer ja auch mehr oder weniger tun. Wenn man aber nicht nur Meinungen transportieren, sondern vielleicht dem Anspruch nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit gerecht werden will, darf man sich nicht daran vorbeimogeln, zumindest zu versuchen, auch komplexe und widersprüchliche Sachverhalte zu erklären. Dafür sind Medien da.
Proteste sind entgegen des medienvermittelten Bildes in China normal
Das beginnt damit, klarzumachen, dass öffentliche Proteste in diesem Land absolut nichts Ungewöhnliches sind. Sie sind sehr viel weiter verbreitet und viel häufiger als westliche „Beobachter“ das dem „totalitären System“ und der Bevölkerung des Landes in der Regel zugestehen möchten. Das wissen natürlich auch die deutschen Medienvertreter – oder zumindest sollten sie das. Das teilen sie ihrem Publikum aber leider nur in seltenen Fällen mit. Ein Schelm, wer Absicht dahinter vermutet.
Wahr ist allerdings auch, dass Demonstrationen in China zumeist unorganisiert und eher spontan sind. Lokaler „Aufruhr“ richtet sich zum Beispiel gegen das Versagen lokaler Regierungen, gegen unlautere Praktiken chinesischer oder ausländischer Unternehmen, gegen korrupte Beamte, gegen schlechte Organisation, Benachteiligung, missliebige Bauvorhaben, Umsiedlung, Umweltverschmutzung und viele andere Missstände, von denen es genügend gibt. Eben auch gegen die Auswüchse der Null-COVID-Maßnahmen – und zwar nicht erst seit dem vergangenen Wochenende.
Allein in Shanghai haben zum Beispiel vor allem auch während des Lockdowns im April und Mai dieses Jahres zahlreiche Bewohner ihrem Unmut in den sozialen Medien und auf der Straße Luft gemacht. Die Proteste fanden seinerzeit allerdings vor allem in und vor den Wohnanlagen statt, in denen sich Bewohner im Lockdown wegen Absperrungen gegängelt, wegen schlechter Versorgungslage im Stich gelassen und wegen der teilweise miesen Organisation hilflos fühlten. Einige Hundert protestierende Bewohner kamen da in vielen Nachbarschaften, die in der 25-Millionen-Einwohner-Stadt leicht auf mehrere Tausend Bewohner kommen, schnell zusammen.
Wie viele Proteste es gegen lokale Maßnahmen in Shanghai und anderen Städten, die von einem Lockdown betroffen sind oder waren, tatsächlich gab und gibt, lässt sich wegen der rigiden Informationspolitik auf allen Ebenen des Landes unmöglich sagen, auch das wissen die Medienvertreter, die jetzt – mit welcher Intention eigentlich? – von den größten Protesten seit Jahrzehnten sprechen.
Im Unterschied zu alltäglichen Protesten, fanden die Kundgebungen in mehreren Städten zeitglich statt und wurden medial begleitet
Dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zu den ungezählten öffentlichen Unmutsbekundungen, die sich gegen vieles aber eben in der Regel nicht direkt gegen die Partei oder die Regierung des Landes richten: Bei den Menschenaufläufen am Wochenende ist – zumindest vereinzelt dokumentiert – auch Kritik an der KPCh und die Forderung nach Xis Rücktritt formuliert worden. Zudem fanden die Proteste in mehreren Städten gleichzeitig statt. Beides ist bemerkenswert, spricht aber trotzdem nicht für den Beginn eines „Freiheitskampfes“ der „unterdrückten Chinesen“, zu dem die Proteste von einigen westlichen Medien direkt oder indirekt, offen oder implizit umgedeutet werden.
Interessant dabei ist, was die deutschen Medien nicht sagen: Berichtet wird darüber, dass der Brand eines Hochauses in Urumtschi bei dem mindestens zehn Menschen ums Leben kamen – weil sie, wie die Chinesen in den sozialen Medien diskutierten in dem Gebäude wegen der COVID-Maßnahmen eingesperrt waren – der Auslöser oder „Aufhänger“ für die Proteste war. Zumindest in Shanghai scheinen Berichte in den sozialen Medien zu bestätigen, dass die Proteste mit einer Trauerkundgebung begonnen haben. Ob irgendwer, und wenn ja, wer oder was, die Proteste organisiert, gesteuert oder koordiniert hat, kann man nur raten, darüber ist in den internationalen Medien nichts zu erfahren. Impliziert wird in den Berichten, dass es sich um spontane Kundgebungen handelte. Dass die Demonstrationen zufällig zeitgleich in mehreren Städten „aufpoppten“ ist aber äußerst fragwürdig. Es scheint, dass die Protestierenden weit überwiegend junge Menschen waren, und die sind in der Regel sehr gut über soziale Medien, Foren, Webseiten und andere Kanäle vernetzt. Zudem waren zumindest in einigen Städten Journalisten über die Zusammenkünfte informiert und vor Ort. Insofern hat man vielleicht die größten organisierten Proteste seit Jahrzehnten gesehen, aber sicher nicht die größten.
Und wie relativ „groß“ hier ist, mag an zwei Zahlenbeispielen deutlich werden: Auch wenn niemand genau weiß oder sagt, in wie vielen Städten am besagten Wochenende tatsächlich protestiert wurde, ist klar, dass es vergleichsweise wenige waren. Dass es in China allein rund 100 Städte mit mehr als fünf Millionen Einwohnern, beziehungsweise mehr als 250 Städte mit mehr als 600.000 Einwohnern gibt, wissen auch die Medienvertreter, die von „Protesten in vielen Städten“ reden, ohne zu sagen, wie viel „viele“ in China ist. Und von wie vielen Protestanten reden wir? In den Medien heißt es beispielsweise „Hunderte in Peking“ (die Stadt heißt übrigens Beijing) oder allgemein „Tausende“. Wie viele sind das 5000, 10.000, 20.000? Selbst wenn es 100.000 wären, entspräche das weniger als 0,1 % der Bevölkerung. Eine Massenbewegung?
Die Bevölkerung ist von den COVID-Maßnahmen genervt und über vieles wütend – einen Umsturz wollen sie aber ganz sicher nicht
In der 25-Millionen-Stadt Shanghai waren ein paar Hundert auf der Straße. Wussten die Shanghaier von den Protesten, obwohl die chinesischen Medien nicht darüber berichtet haben und jeder Post darüber etwa in WeChat geblockt oder gelöscht wurde? Natürlich! Spätestens am Sonntag, am Tag nach den ersten Protesten war die „Nachricht“ in allen Stadtteilen durch. Mitprotestieren wollten die Bewohner aber nicht.
Sind die Shanghaier sauer über die Auswirkungen und Handhabung der Corona-Maßnahmen? Ja! Sind sie unzufrieden mit der Null-COVID-Politik? Ja und nein. Zumindest bis zum Lockdown im letzten Frühjahr sind die Shanghaier wie alle Chinesen, die nicht gerade im Lockdown waren, durchaus gut mit der Politik gefahren. Anders als beispielsweise in weiten Teilen Europas gab es in der Stadt in der meisten Zeit im täglichen und öffentlichen Leben kaum Einschränkungen. Shanghai war eine weitgehend Corona-freie Oase, die wenigen Fälle, die es gab, wurden zuhause oder in Krankenhäusern isoliert.
Das hat sich mit dem Lockdown – der wie in anderen Städten zum Teil erschreckend dilettantisch gehandhabt wurde und teilweise zu dramatischen Szenen geführt hat, die die Shanghaier jetzt hautnahe miterleben durften – drastisch geändert. Die Shanghaier waren über die teilweise chaotischen Verhältnisse, die überzogenen und willkürlichen Maßnahmen in den Stadtteilen und Nachbarschaften und die Bedrohung in eines der eilends eingerichteten Corona-Camps eingewiesen zu werden absolut nicht amüsiert. An vielen Stellen machte sich Unruhe breit. Und auch, wenn sich das Leben in der Stadt danach in weiten Teilen wieder normalisiert hat, bleiben zahlreiche Einschränkungen und Auswirkungen, die auf Dauer auch für den pragmatischsten Chinesen nur schwer zu ertragen sind. Immer mehr Menschen sind entnervt und Zero-müde. Wollen sie deshalb die Regierung stürzen? Nö! Quark! Natürlich nicht. Und sei es nur aus Mangel an Alternativen.
Die Chinesen wollen nicht das System ändern, sie wollen, dass das System etwas ändert. Die Partei soll sich etwas einfallen lassen, um das tägliche Leben wieder angenehmer zu machen. Würden sie dafür auf die Straße gehen? Ja, wahrscheinlich. Es wäre ja nicht das erste mal. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, ihre Vorratskammern zu füllen, um sich auf einen befürchteten weiteren Lockdown vorzubereiten und wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen. Spätestens bei einem weiteren Lockdown müsste man wohl mit zunehmender Unruhe und kreativem Protest rechnen.
Aber die Shanghaier fühlen sich trotz aller Wut über die Maßnahmen, die auch in ihrer eigenen Wahrnehmung zumindest teilweise stark ihre Freiheit einschränken, nicht von der Regierung unterdrückt – zumindest nicht im Sinne des westlichen „Wertesystems“ und der auf vielen Vorurteilen und Ahnungslosigkeit (oder absichtsvoll manipulativer Meinungsmache?) basierenden Definition deutscher Medien- und Politikvertreter. Das heißt nicht, dass es keine Willkür, Unterdrückung und Ungerechtigkeit gibt, das wissen auch die Chinesen. Aber auch wenn sie vieles kritisieren und sich gegen vieles wehren, werden sie deshalb die Hoffnung auf einen „Aufstand“ gegen die Partei und „Unterdrückung“, auf den man sich auf Twitter, aber auch in manchen Medien unbändig freut, nicht bedienen. Die Shanghaier sind ja nicht bescheuert.