Drängeln, was das Zeug hält – das war gestern

Chaotisch: Gedränge am Busbahnhof von Chongqing im Jahr 2008. Foto: Jochen Klein

Aktualisierung im November 2021 / Erstveröffentlichung im November 2005

Update: Ja, es gibt sie noch, die Shanghaier der etwas älteren Generation, die überall versuchen, sich vorzudrängen, die an den Reihen der Wartenden vorbei ihren Papierkram auf die Theke donnern und in der Erwartung sofortiger Aufmerksamkeit, laut ihre Nöte mitteilen, auch wenn die Servicekraft auf der anderen Seite gerade mit einem anderen Kunden beschäftigt ist und eigentlich niemand ihre Geschichte hören will. Menschen, die versuchen, an allen vorbei immer die Ersten zu sein, egal ob es rein, raus, drunter oder drüber geht. Allerdings ist diese spezielle „Spezies“ mit ihrer Unart immer weniger erfolgreich – und es werden einfach auch immer weniger. Die Drängler sterben in Shanghai wahrscheinlich nicht aus, aber allgemein hat Wartedisziplin langsam aber sicher Einzug ins Chaos gehalten. Mehr oder weniger geordnete Schlangen überall, egal ob an der Kasse im Supermarkt, am Ticketschalter oder vor den U-Bahn-Türen – ja, gerade in der U-Bahn und selbst an der Bushaltestelle. Noch vor 10 Jahren hätte ich das für undenkbar gehalten, aber man sollte die Shanghaier und den Willen zur andauernden Veränderung in dieser Stadt und diesem Land eben nicht unterschätzen.

Bargeldlos im E-Bus bezahlen

Wenn die Menschen es wollen oder glauben (müssen), es zu wollen, entwickelt China eine geradezu unglaubliche Kraft – in jede Richtung. Dass oft auch in der scheinbaren Ordnung ein geradezu anarchistisches Chaos auf der Basis von Halbwissen und nicht selten daraus resultierender Ignoranz und Arroganz herrscht, ist ein anderes – und natürlich auch nicht unbedingt nur spezifisch chinesisches – Thema. Bus fahren in Shanghai jedenfalls, nehme ich längst nicht mehr als auch nur annähernd so abenteuerlich wahr, wie noch 2005. Ein Vergnügen ist es trotzdem auch heute nicht immer. Die Busse sind oft immer noch überfüllt, obwohl doch gefühlt inzwischen jeder Bewohner Shanghais ein eigenes Auto haben müsste, und der Komfort lässt dann naturgemäß oft zu wünschen übrig. Andererseits ist ein Großteil der Busflotte heute modern und fährt elektrisch. Die Busbegleiter gibt es in den meisten Fällen nicht mehr, was auch dem radikal geänderten Bezahlverhalten geschuldet sein dürfte. Die wenigsten brauchen heute noch ein Ticket, bezahlt wird mit dem Handy, z.B. über WeChat oder Alipay. Man kann in Shanghai komplett bargeldlos überleben, wenn man will, und zwar auch als Ausländer – vorausgesetzt natürlich, Mann oder Frau hat ein Bankkonto.

Ursprungsveröffentlichung vom 11.11.2005 auf China-Blog.jok-online.net

Ich liebe Bus fahren – besonders in Shanghai. Hier ist Bus fahren Wettbewerb pur, vor allem im Berufsverkehr: Das beginnt an der Haltestelle, wenn die Ersten von hinten nach vorne drängen. Dieser Aufmarsch in günstige Positionen ist auch für Menschen, die die landesüblichen Schriftzeichen – und damit auch den Busfahrplan – nicht lesen können, ein sicheres Zeichen dafür, dass der Bus bald kommen wird.

Bloß nicht stehen müssen

Spätestens wenn das begehrte Gefährt in Sichtweite ist, drängt alles auf die Straße. Die Gefahr von rücksichtlosen Autofahrern oder dem wild hupenden, in schneller Fahrt heranbrausenden Bus überfahren zu werden, scheint dem Durchschnittseuropäer dabei nicht kalkulierbar, weshalb er sich der Massenbewegung nur ungern anschließt. Die Chinesen haben andere Erfahrungswerte. Die Gefahr, im Bus stehen zu müssen, ist ungleich größer. Dirigiert wird die schubsende Masse vom zumeist weiblichen Busbegleiter. Diese ausgesprochen durchsetzungsfähigen Damen sitzen hinter der Mitteltür, nahe einem weit zu öffnenden Seitenfenster. Aus dieser sicheren Luke heraus lassen sich trefflich Warnungen an Fußgänger brüllen, wenn der Bus irgendwo abbiegt – oder eben eine Haltestelle erreicht. Derweil stürzen sich die potenziellen Fahrgäste auf die Türen des noch rollenden Busses. Es wird geschubst, gedrängelt und geschoben was das Zeug hält – ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Nationalität oder körperlicher Konstitution. Das passt schon.

Kaum Verkehr am Bund: Linienbus im Jahr 2005. Foto: Heike West

Schon nach wenigen Sekunden setzt sich der bis zum letzten voll gestopfte Bus wieder in Bewegung. Umfallen kannst du nicht, eingekeilt zwischen all diesen Menschen, die Körperkontakt zwar nicht gerade lieben, aber Weltmeister darin sind, Dinge, die sie nicht ändern können, ohne ein Anzeichen von Verärgerung hinzunehmen. Mehr noch: Die trotz des soeben offen ausgetragenen – aus Sicht des Europäers etwas aggressiv anmutenden – Wettbewerbs um die verfügbaren Sitzplätze, nun mit ausgesuchter Höflichkeit älteren Menschen und Müttern mit Kindern ihre Sitzplätze anbieten. Wenn die höflich ablehnen, wird solange an ihnen gezerrt, bis sie keine andere Wahl haben, als sich – protestierend, aber dankbar lächelnd – zu setzen.

Preiswert fahren

Der Preis für eine Busfahrt richtet sich nach Streckenlänge und Komfort des Busses. Eine Fahrt mit dem klimatisierten Bus kostet für die normale Strecke 2 Yuan (umgerechnet etwas weniger als 20 Cent), im nicht klimatisierten darfst du für 1 Yuan schwitzen. Bezahlt wird bar bei der Busbegleitung oder mit einer aufladbaren Bus-Scheckkarte, die für alle Verkehrsgesellschaften gültig ist. Das Bargeld wird im vollen Bus von Hand zu Hand zur Busbegleiterin gereicht, das Ticket geht den gleichen Weg zurück. Ich stehe in der Nähe der Busbegleiterin und drücke meine Brieftasche mit der darin enthaltenen Scheckkarte auf das mir entgegengestreckte Lesegerät. Funktioniert wunderbar. Das Lesegerät gibt eine akustische und optische Rückmeldung über die Bezahlung und schon kann ich mich den Nachrichten zuwenden, die soeben auf zwei angebrachten Flachbildschirmen zu sehen sind.
Das Aussteigen gestaltet sich ähnlich schwierig wie das Einsteigen. Nur dass ich jetzt auf der anderen Seite stehe und mich – unter vollem Einsatz der verfügbaren Körpermasse – den in den Bus stürzenden Menschen entgegen stemmen muss, um eine Chance zu haben, dem Gedränge zu entkommen. Kaum draußen, werde ich von hupenden und klingelnden Zweiradfahrern begrüßt, die ungebremst auf mich zuhalten. Wie friedlich es doch im Bus war. Ich liebe Bus fahren – besonders in Shanghai.

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