Die „Wiedereinführung der Wehrmacht“

Deutschland 2023: Das Volk und die Medien feiern undifferenzierte „Klartext-Erklärungen“ und „Haltung“ von und bei Politikern, Andersdenkende und kritische Stimmen werden widerspruchslos öffentlich beleidigt, diffamiert und ausgegrenzt – auch in den Medien und von Teilen der Politik ­–, das Außenministerium reißt Brücken ab und kappt Kommunikationskanäle und das Verteidigungsministerium fordert „Kriegstüchtigkeit, Tapferkeit und Führungswillen“.

Wenn nun das Online-Portal Thüringen24, das zu einem der großen deutschen Zeitungs-Verlage gehört, meldet, die „ARD-Börsenexpertin und Journalistin“ Anja Kohl habe erklärt, man müsse über die „Wiedereinführung der Wehrmacht“ nachdenken, ist das nicht nur ein Nachweis für mangelnde Korrektur, Schlussredaktion und Qualitätskontrolle. Es zeigt auch, wie naheliegend es ist, angesichts der Entwicklung in Deutschland, gedankliche Parallelen zur deutschen Geschichte zu ziehen.

„Wehrmacht“ oder „Wehrpflicht“?

„Wehrmacht“ statt Wehrpflicht passt zu „kriegstüchtig“

Der „Freud’sche Versprecher“ stand einige Tage auf der Seite, bevor er stillschweigend und kommentarlos korrigiert wurde – was wohl zeigt, dass es die meisten Leser nicht irritiert hat, von der Wiedereinführung der Wehrmacht, statt der Wehrpflicht zu lesen.

Überraschend ist das nicht, denn der Gedanke an die deutsche „Wehrmachts-Geschichte“ dürfte bei sehr vielen Menschen nicht weit sein, wenn man davon spricht, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, also in der Lage sein, tüchtig Kriege zu führen – es ist anzunehmen, dass auch dem Verteidigungsminister diese Assoziation bewusst ist und dass er sich dennoch absichtsvoll für den Begriff entschieden hat. Denn auch wenn Pistorius beteuert, „einen Krieg zu führen“, sei das letzte, dass er anstrebe, und er verstehe unter Tüchtigkeit nur “eine besondere Form der Tauglichkeit – im Sinne von ‚etwas beherrschen zu können’“, und hinterherschiebt, dass man „in der Lage sein müsse, potenziellen Aggressoren sagen zu können: Wir sind verteidigungsfähig“, geht es ihm eindeutig um mehr als nur um die Abwehr eines Angriffs auf deutsches Staatsgebiet. Das hat er spätestens mit den neuen verteidigungspolitischen Richtlinien klar gemacht, die das Ministerium in der ersten Novemberwoche veröffentlicht hat.

Deutschland im Indopazifik und in Asien verteidigen

Als konkrete Aufgaben benennen die Richtlinien neben der „Verteidigung des deutschen Hoheitsgebiets, die Verteidigung gegen Angriffe auf das Hoheitsgebiet von Bündnispartnern, die Verteidigung gegen terroristische und hybride Bedrohungen sowie die Festigung der transatlantischen und europäischen Verteidigungsfähigkeit“. Das schließt Auslandseinsätze, wie sie seit vielen Jahre zu den „Aufgaben“ der per Grundgesetz eigentlich ausschließlich der Verteidigung dienenden Bundeswehr gehören, nicht nur ein, es gibt Raum zur Ausweitung.

Das ist selbstverständlich ganz im Sinne des Verteidigungsministers, der betont, dass „natürlich das Engagement Deutschlands in der Welt sichtbarer werden muss, als das bisher der Fall war, zum Beispiel im Indopazifik und auch an anderen Stellen“.

„Wir müssen Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung in Europa sein. Unsere Bevölkerung, aber auch unsere Partner in Europa, Nordamerika und der Welt erwarten von uns, dass wir uns dieser Verantwortung stellen“, schreibt Pistorius gemeinsam mit dem Generalinspekteur in seinen Richtlinien für eine „kriegstüchtige“ Bundeswehr.

Das sind markige Worte. Deutschland „kriegstüchtig“ machen, heißt folglich nicht nur, Deutschland auf einen drohenden Angriff in Europa vorzubereiten, es bedeutet Deutschland dafür „fit“ zu machen, intensiver und aktiver am weltweiten Krisen- und Kriegsgeschehen teilzunehmen. Afrika, Nahost, der Indopazifik und die Arktis aber ausdrücklich auch China, das „die regelbasierte internationale Ordnung nach seinen Vorstellungen umzugestalten“ versuche und „zunehmend offensiv eine regionale Vormachtstellung“ beanspruche, sind ausdrücklich in die Richtlinie eingeschlossen.

Pistorius spreche eine unbequeme Wahrheit aus, findet das ZDF, und RND Redaktionsnetzwerk Deutschland, das rund 60 Tageszeitungen mit Inhalten versorgt, kommentiert, „die Vokabeln des Verteidigungsministers klingen martialisch. Doch sie sind der Lage letztlich angemessen.“ Deutschland, so der Tenor, müsse militärisch mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Kann man so sehen, muss man aber nicht.

Tapferkeit und Führungswille in Krieg und Frieden

Auch wenn Pistorius und andere Politiker begleitet von Journalisten versuchen, Militarisierung als Friedenspolitik zu verkaufen, wird ein „kriegstüchtiges“ Deutschland der Welt sicher nicht mehr Frieden bringen. Wenn Deutschland mehr Verantwortung für den Frieden übernehmen will, muss die Maxime Krisenvermeidung heißen, nicht Krisenbeteiligung. Das schließt eine wehrhafte Bundeswehr in Deutschlands Grenzen nicht aus, im Gegenteil.

„Tapferkeit und Führungswille“ zeigen sich aber nicht in der besonderen Tauglichkeit zum Töten und zum Sieg in einer kriegerischen Auseinandersetzung – denn das ist es, was Pistorius meint, wie immer er das zu umschreiben versucht.

Führungswille würde sich zum Beispiel durch Anstrengungen zur Stärkung der Weltgemeinschaft, durch Engagement in der UN, durch Vermittlung in Krisen, durch Unterstützung von Friedensbemühungen zeigen. Ja, dazu kann zum Beispiel auch die Teilnahme an UN-Friedensmissionen gehören.

Tapferkeit ist die Courage, sich gegen Krieg zu stellen und alles zu unternehmen, um Leben zu bewahren. Es ist der Mut von Müttern und Vätern, ihre Töchter und Söhne zurückzuhalten, wenn Politiker sie auf das Schlachtfeld schicken wollen. Menschen in den Krieg zu schicken, erfordert keine Tapferkeit – zumal nicht von denen, die selbst nicht ihren Kopf ins Feuer halten und nichts zu verlieren haben.

Tapferkeit zu fordern, über Tapferkeit zur reden, erfordert keine Tapferkeit. Kriegstüchtigkeit zu fordern, erfordert keine Tapferkeit und offenbart keinen Führungswillen. Es offenbart Arroganz und ein überkommenes Schwarz-Weiß-Denken.

Geschichte wiederholt sich nicht – Katastrophen aber schon

Die zunehmende politische und gesellschaftliche Radikalisierung und Militarisierung Deutschlands, der Versuch, den Gedanken an Krieg und deutscher Kriegsbeteiligung wieder gesellschaftsfähig zu machen, die Rufe nach Klartext, Haltung, Kriegstüchtigkeit, Tapferkeit, Führungswillen – all das ist Ausdruck für den Wunsch nach einfachen Antworten auf schwierige Fragen, die sich in einer komplexen und sich verändernden Welt stellen, für das Sehnen nach Orientierung, nach Widerstand gegen und Angst vor Veränderung und Verlust. Wohin gehst du, Deutschland?

Nein, Geschichte wiederholt sich nicht, aber solange wir es zulassen, dass sich das Denken in Kategorien von „Gewinnern und Verlierern“ und „Sieg oder Niederlage“ durchsetzt, so lange werden sich die Katastrophen wiederholen, zu denen dieses Denken geführt hat und immer führen wird.

Holt besser eure Kinder rein.

2 Gedanken zu „Die „Wiedereinführung der Wehrmacht“

  1. Folker Antworten

    Die Angst vieler Bundespolitiker vor einem weiteren Erstarken der AfD ist so groß, das man mittlerweile bereitwillig die Themen und das Vokabular der Rechtsradikalen übernimmt. Das rechte Gedankengut wird damit zunehmend wieder salonfähig. Anstatt sich klar abzugrenzen, lassen sie sich Themen aufoktroyieren und rechte Diskussionsfäden werden – auch von den Medien – gerne aufgegriffen. So rückt die gesamte Republik fast unmerklich immer weiter nach rechts und die Damen und Herren dort können sich die Hände reiben. Geschichte wiederholt sich… vielleicht doch.

    • JOK Autor des BeitragsAntworten

      Na ja, die AfD hat ja irgendwie ihren Ursprung in den etablierten Parteien und die haben die AfD mit ihrem infantilen Gehabe überhaupt erst groß gemacht. Ich glaube, dass sich da einige Bundespolitiker gar nicht wirklich abgrenzen wollen…. Ich behaupte, dass nicht wenige demokratische Politiker und Medien einen guten Teil zur Gefährdung und Schwächung der Demokratie beitragen … insofern ja, stimme ich zu, vielleicht doch …

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