Seit rund 40 Jahren bestimmt in den kapitalistisch geprägten Staaten dieser Welt der sogenannte Neo-Liberalismus mehr oder weniger die Entwicklung unserer Gesellschaften. Und bei allen Errungenschaften und Entwicklungen, die ohne freie Marktwirtschaften (mit Regeln und Kontrollen) niemals möglich gewesen wären, führt insbesondere der neo-liberale Ansatz offensichtlich eher in die gesamtgesellschaftliche Spaltung als dass er zu ihrer Entwicklung beiträgt. Plakativ gesagt: Der freie Markt steht über allem, es gilt das Recht des Stärkeren – im System gern zu den Leistungsfähigeren verklärt. Der Staat wird bestenfalls gebraucht, um Marktteilnehmer, die im Krieg um die höchsten Gewinne aufgrund ihrer Unfähigkeit oder anderer Katastrophen unterzugehen drohen, zu retten – mit den Steuergeldern der Gesamtgesellschaft. Wer sich dem Diktat des neo-liberalen Marktes nicht unterordnet, wird aussortiert – egal, ob er nicht will oder nicht kann. Ganze Bevölkerungsschichten wurden so von der Entwicklung abgehängt.
Alles, was nicht ins neo-liberale Weltbild passt, wird ausgeklammert und ignoriert. Alternative Wirtschaftsformen oder Modelle fanden in den Medien – zu deren Aufgaben es ja unter anderem gehört, Meinungsvielfalt abzubilden und Debatten zuzulassen oder im besten Falle sogar anzustoßen – bis auf wenige Ausnahmen nicht statt und wurden auch kaum diskutiert. Und bis heute gilt: Wer die Auswüchse und Fehlentwicklungen des neo-liberalen Systems kritisiert oder in Frage stellt, wird in die Sozialisten-Ecke geschoben.
Und jetzt das: In seiner ersten Ausgabe des neuen Jahres hebt das Nachrichtenmagazin Der Spiegel Karl Marx auf die Titelseite und lässt auf sieben Seiten Alternativen zum Neo-Liberalismus für eine „gerechtere, nachhaltigere Wirtschaftsordnung“ diskutieren.
Marx auf der Titelseite – als gäbe es sonst keine Alternativen
Das ist beachtlich. Man kann zum Spiegel stehen, wie man will, aber das Magazin gehört in Deutschland noch immer zu den Meinungsbildnern. Mit der Titelstory macht das Magazin einen Schritt, der vielleicht dazu beiträgt, dass die durch den Neo-Liberalismus verursachten Schäden, die vertanen Chancen und Alternativen zum neo-liberalen Wirtschaftssystem nicht mehr nur im stillen Kämmerlein, sondern öffentlich und breiter diskutiert werden. Das macht Hoffnung.
Dass ausgerechnet wieder Marxens Lehre herhalten muss, um das Hinterfragen des Mantras der totalen Marktwirtschaft zu signalisieren, ist ein bisschen bedauerlich. Viele potenzielle Leser werden bereits beim Blick auf die Abbildung abwinken und reflexartig in Richtung „wir wollen keinen neuen Sozialismus“ denken. Das war es dann. Dass man zur Einordung von Ideen, die jenseits von Wachstum und Ausbeutung die Entwicklung der Gesamtgesellschaft im Blick haben, das Schwarz-Weiß-Denken in den Kategorien Sozialismus-Kapitalismus verlassen und auf eine andere Ebene transferieren muss, ist eben nur schwer vermittelbar – auch nach meiner persönlichen Erfahrung in den letzten zwei Jahrzehnten, und anscheinend auch für den Spiegel. Die Autoren schaffen es aber, überzeugend deutlich zu machen, warum wir neue Ideen brauchen, die nicht nur den „neuen Kapitalismus“ sondern auch den „alten Marx“ überwinden. Es geht eben nicht darum, zwischen Planwirtschaft und freiem Markt, zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu entscheiden, sondern unser Wirtschafts- und Gesellschafts-System neu zu denken. Nichts anderes haben nebenbei bemerkt auch die Neo-Liberalen getan – das von ihnen durch massive Bearbeitung und stetige Wiederholung in den Köpfen verankerte Credo vom weitgehend alternativlosen neo-liberalen Wirtschaftssystem ist schließlich auch kein Naturgesetz.
30 Jahre bis zum Erfolg
Die geistigen Väter des Neo-Liberalismus, die 1938 und dann – nach dem 2. Weltkrieg – 1947 zusammengekommen sind, um den Boden für den Erfolg ihrer Ideen zu bereiten und den gezielten Aufbau von Netzwerken und Organisationen vorzubereiten, sind davon ausgegangen, dass es 20 bis 30 Jahre dauern wird, bis genügend Journalisten, Wissenschaftler, Politiker und andere Meinungsbildner von der neo-liberalen Idee überzeugt sind, sie weiterverbreiten und sich erste Erfolge einstellen. Diese Schätzung war, wie wir wissen realistisch: Ab Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre übernehmen die Neo-Liberalen in fast allen kapitalistisch geprägten Ländern nach und nach die Macht – wirtschaftlich und politisch.
Wirtschaft und Gesellschaft neu denken
Wenn heute im Spiegel das Ende des Neo-Liberalismus diskutiert wird, wird das das neo-liberale System kaum kratzen. Um das Ende auch nur ansatzweise zu denken, müssten unter normalen Umständen wieder genügend Journalisten, Wissenschaftler, Politiker und andere Meinungsbildner davon überzeugt sein, dass wir, wie der Spiegel formuliert, eine „gerechtere, nachhaltigere Wirtschaftsordnung“ brauchen. Dass dauert vermutlich länger als 30 Jahre – auch weil die Gegenbewegung(en) zu den liberalen Reichen-Steuer-Senkern und Sozialausgaben-Kürzern bei weitem nicht die Macht-Mittel haben wie die Begründer und Befürworter des Neo-Liberalismus. Aber es sind gerade keine normalen Umstände. Auch wenn die Neo-Liberalen alle Krisen überstehen und sogar in ihnen gewinnen, könnten die Herausforderungen, die die Klima-Krise in Kombination mit den verursachten Schäden durch das neo-liberale System anstehen, das Ende des Neo-Liberalismus dramatisch beschleunigen. Auch das ist eine Hoffnung – meine.
Hoffnung – so habe ich in meinem Neujahrsgruß geschrieben – bedeutet für mich zu glauben, dass wir als menschliche Gemeinschaft irgendwann alle Arroganz und Machtkämpfe überwunden haben und Menschlichkeit, Mitgefühl und unsere gemeinsame Entwicklung über nationale und persönliche Profitinteressen, Egoismus, Ausbeutung und Gewalt stellen.
2023 wird es sicher noch nicht so weit sein, aber das neue Jahr bietet eine hervorragende Gelegenheit, weitere kleine Schritte auf diesem Weg zu gehen. Der Spiegel ist einen dieser Schritte gegangen.
Hoffnung #2/2023